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Presseschau - Detail

Wie Augustinus und Bonaventura

DT vom 14.02.2013, Nr. 20, S. 4 von Michael Karger

Benedikt XVI. machte Theologie für die Verkündigung fruchtbar. 

 

Der 2012 erschienene dritte und letzte Band der Jesus-Trilogie des Heiligen Vaters zeigte noch einmal, wie sehr Joseph Ratzinger die Kunst beherrschte, theologische Erkenntnisse verständlich zu formulieren.

 

Der siebenundzwanzigjährige Dozent Joseph Ratzinger hat in seiner 1955 in München eingereichten Habilitationsschrift auf eine Gemeinsamkeit zwischen Augustinus und Bonaventura hingewiesen: Ihre Werke hätten sich durch die Übernahme eines kirchlichen Amtes weiterentwickelt. Man könnte sagen, „für Bonaventura habe die Erhebung zum Generalminister auf analoge Weise das bedeutet, was für Augustinus die Berufung zum Presbyterat gewesen war“. Denn in beiden Fällen sei „durch die neue Aufgabe eine neue Form erzwungen“ worden: „Predigt und pastorales Schrifttum tritt an die Stelle wissenschaftlicher Traktate.“ Aus der erforderlichen neuen Sprachform habe sich dann auch eine neue Denkform ergeben, „ohne dass ein bewusster Bruch mit früheren Standpunkten“ notwendig geworden sei. Dadurch, dass Augustinus sich als Bischof und Bonaventura sich als Ordensoberer haben in Dienst nehmen lassen, sei ihr Denken erst ganz zu sich selber gekommen: „Bonaventura hat seine Vollendung nicht auf der Ebene des scholastischen Systems gefunden … Bonaventuras Vollendung ereignete sich vielmehr auf einer Ebene, die ihm viel gemäßer ist: In einer Theologie, die zugleich auch schon Verkündigung ist.“

 

Hinsichtlich seines Lieblingstheologen, des heiligen Augustinus, fügte Ratzinger noch hinzu: „Es wird heute kaum noch jemandem einfallen, die Tatsache bedauerlich zu finden, dass Augustins Werk frühzeitig aus der akademischen Sphäre herausgerissen wurde und sich dann in der Weise der Verkündigung entfalten und vollenden musste …“

 

Das dreibändige Alterswerk ist Christus gewidmet

 

Mit diesen Aussagen hat der junge Ratzinger bereits seinen eigenen Lebensweg vorweggenommen. Das Beispiel der beiden heiligen Theologen gab dem Dogmatikprofessor Ratzinger einen gangbaren Weg vor, als er 1977 zum Bischof von München und Freising ernannt wurde, 1982 als Kurienkardinal die Kongregation für die Glaubenslehre übernahm und schließlich 2005 in das Petrusamt gewählt wurde. Er fand seine eigentliche Form „in einer Theologie, die zugleich auch schon Verkündigung ist“. Diese Einheit von Theologie und Verkündigung hat Joseph Ratzinger in seinem dreibändigen theologischen Alterswerk, an dem er durch sein gesamtes Pontifikat (2005–2013) geschrieben hat, auf besondere Weise verwirklicht. Er hinterlässt das Zeugnis eines Papstes, der inmitten seiner Aufgabenfülle im strengen Sinne Theologie betreibt und für die Verkündigung fruchtbar macht. Während es in seiner „Einführung in das Christentum“ (1968) um die Entfaltung des Christusbekenntnisses in den Artikeln des apostolischen Glaubensbekenntnisses ging, so geht es in „Jesus von Nazareth“ um die Darlegung des Christusbekenntnisses in den Evangelien. Der erste Band (2007) setzt mit der Taufe Jesu ein und stellt die Verkündigung Jesu in den Mittelpunkt. Im zweiten Band (2011) geht es um Passion und Auferstehung. Zusammenfassend könnte man sagen: Im ersten Band wird Jesus als der neue Mose dargestellt und im zweiten als der neue Tempel erwiesen. Im nachträglich (2012) vorangestellten „Prolog“, der Auslegung der Kindheitsgeschichten der Evangelien, setzt der Papst seine narrative Christologie, seine Methode der Christologie als Schriftauslegung, konsequent fort und führt sie zu Ende. Die zu Beginn des „Prologs“ gestellte Frage nach dem Woher Jesu umgreift das gesamte theologische Lebenswerk des Theologen Joseph Ratzinger. Im Mittelpunkt seines Werkes steht die Auslegung und Verkündigung des Christusgeheimnisses. „Die Frage nach dem Woher Jesu als Frage nach seiner inneren Herkunft und so nach seinem wahren Wesen“ wird in den vier Evangelien beantwortet.

 

In „Jesus von Nazareth“ wendet Papst Benedikt souverän die Methode der christologischen Schriftauslegung an und eröffnet dadurch tiefe neue Zugänge. Als Lehrer der Schriftauslegung führt er damit vor, dass nur mit der Glaubenshermeneutik, die von der Einheit der Schrift in Christus als ihrer Mitte ausgeht, ein richtiges Verstehen der Heilsgeschichte möglich ist. Zugleich erweist sich das Spätwerk des Papstes dadurch als auf der Höhe der hermeneutischen Diskussion der Gegenwartstheologie. Am Anfang seines wissenschaftlichen Werkes steht die begriffsgeschichtliche Studie „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. Mit dieser Arbeit trug Ratzinger zur Rückgewinnung der biblisch fundierten eucharistischen Kirchenlehre des heiligen Augustinus und der gesamten Patristik bei. Die Glaubenden sind eins als Ekklesia, das heißt „als Kultversammlung Gottes, in der sie das eine Brot essen, das sie zu einem Leib macht, in der sie das eine Wort bezeugen, durch das sie eines Geistes sind“. Kirche ist Volk Gottes nur dadurch, „dass es vom Leib Christi und vom Wort Christi lebt und auf solche Weise selbst Leib Christi wird“.

 

Die eucharistische Kirchenlehre der Väter entspricht der paulinischen Bezeichnung der Kirche als „Leib Christi“, die für Ratzinger von der Sache her die Auslegung des vom Herrn gesetzten Sachverhaltes bedeutet, dass das neue Volk Gottes seine Wirklichkeit vom Herrenmahl her empfängt. Vor allem Vermittler eines authentischen Kirchenverständnisses war der Universitätsprofessor, der Konzilstheologe, der Präfekt der Glaubenskongregation und das Oberhaupt der Universalkirche Joseph Ratzinger. Ekklesia hat die dreifache Bedeutung Kirche, Ortsgemeinde und Kultversammlung: Sie dient dem „Einswerden der Christen zum einen Leib des Herrn“. Kirche als das große „Gesamtsakrament“ ist dabei immer nur eine, wobei die Ortskirchen nur auf dieses „Gesamtsakrament“ hin Kirche sind. Nicht darin gründet die Einheit der Kirche, dass sie eine einheitliche Zentralregierung hat, sondern darin, dass sie von dem einen Herrenmahl her lebt. „Diese Einheit des Christusmahles ist aber geordnet und hat ihren obersten Einheitspunkt im Bischof von Rom, der diese Einheit konkretisiert, gewährleistet und in ihrer Reinheit erhält. Wer mit ihm nicht übereinstimmt, trennt sich selbst von der vollen Communio der unteilbaren Kirche.“ Der Bischof von Rom konkretisiert und repräsentiert die Einheit, die die Kirche von dem einen Herrenmahl her empfängt. Maßstab der wahren apostolischen Überlieferung ist die Kirche von Rom. Mit ihr muss jede Ortskirche übereinstimmen.

 

Ratzinger vertritt die zeitliche und seinshafte Vorgängigkeit der Universalkirche vor der Ortskirche. Weil Eucharistie Feiern heißt, „in die Einheit der Gesamtkirche – nämlich des einen Herrn und seines einen Leibes – eintreten“, gibt es kein Recht der Gemeinde auf Eucharistie. Hinter dieser falschen Vorstellung steht der Gedanke, dass sich die Gemeinde die Eucharistie auch ohne sakramentales Priestertum geben könne. Priestertum in der apostolischen Nachfolge bedeutet für Ratzinger demgegenüber, dass die Eucharistie nur aus der Gesamtkirche und ihrer sakramentalen Vollmacht geschenkt werden kann. Durch die apostolische Sukzession, durch die Gemeinschaft mit dem Bischof, werden die Ortskirchen an die Gesamtkirche gebunden. Keine Gruppe kann sich zur Kirche machen. Somit gehört das dreistufige Amt von Bischof, Presbyter und Diakon zur sakramentalen und damit unverfügbaren Wesensstruktur der Kirche. Die Konstruktion der gesamten Kirchenverfassung aus der eucharistischen Mitte heraus gehört zu den großen und bleibenden Leistungen des Theologen Joseph Ratzinger. Hier sind im voraus wesentliche Korrekturen nachkonziliarer Irrwege zu finden.

 

Ratzingers Verständnis des Priesteramtes liegt bereits in seinem eigenen Primizspruch beschlossen: „Nicht als ob wir von uns selbst aus etwas vermöchten, sondern unsere Fähigkeit kommt von Gott“ (2 Kor 3, 5). Seine Begründung geht von Christus aus, der mit göttlicher Vollmacht als der Gesandte des Vaters auftrat. Von den Aposteln wird seine Sendung fortgesetzt. Allerdings kann der Apostel aus sich selbst heraus nichts geben. Die sakramentale Struktur der Kirche bedeutet: „Ich gebe, was ich selbst nicht geben kann; ich tue, was nicht aus mir kommt; ich stehe in einer Sendung und bin Träger dessen geworden, was der Andere mir gegeben hat.“ Priester ist man nur in Gemeinschaft mit dem Bischof, und das Bischofsamt kann man nur in der Gemeinschaft des Bischofskollegiums ausüben, in dem sich das Apostelkollegium fortsetzt. Entschieden forderte Papst Benedikt immer wieder die Bischöfe auf, ihre Lehrvollmacht besser auszuüben. Als die „lebendige Stimme des Glaubens“ dürfe der Bischof nicht der Versuchung erliegen, die Glaubensinhalte „von der Konsensfähigkeit her neu zu definieren“.

 

Nachdem der Regensburger Dogmatikprofessor Ratzinger 1977 in seiner Monographie „Eschatologie – Tod und ewiges Leben“ den Begriff der Seele rehabilitiert hatte, erklärte bereits zwei Jahre später das oberste Lehramt den Seelenbegriff als unverzichtbar. Ratzinger zeigte, worin die Legitimität der Verwendung der Begriffe Leib und Seele in der Tradition besteht. Seele ist für ihn „nichts anderes als die Beziehungsfähigkeit des Menschen zur Wahrheit, zur ewigen Liebe“. Leider ist diese Wende bisher nicht vollkommen bis in die liturgischen Texte und die pastorale Praxis vorgedrungen.

 

In der Eschatologie haben auch die Stellungnahmen Ratzingers zur politischen Theologie, zur Theologie der Hoffnung und zur Befreiungstheologie ihren systematischen Ort. Alle Vorstellungen einer innergeschichtlichen Erlösung und Vollendung der Welt werden von der Kirche abgelehnt. Allein der auferstandene Christus ist der Garant dafür, dass die Vollendung der Welt außerhalb ihrer selbst keine Illusion ist. Aus dieser Einsicht in die Gefährlichkeit der innerweltlichen Heilsversprechen des Marxismus ging der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre entschieden gegen marxistisch inspirierte Befreiungstheologen vor. Bis heute wird das Verdienst von Kardinal Ratzinger und Johannes Pauls II., die Kirche vor dem Eindringen letztlich inhumaner und totalitärer innerweltlicher Heilslehren bewahrt zu haben, nicht wahrgenommen.

 

Im Zusammenhang mit seiner Habilitationsschrift „Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras“ hat Ratzinger sich erstmals mit Heilslehren befasst, die auf der Grundlage von geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten eine innerweltliche Vollendung der Geschichte angenommen haben. Seine hier gewonnenen Einsichten haben ihn später dann die Gefahren der politischen Theologien frühzeitig erkennen lassen. Zentrale These der Bonaventura-Arbeit war die Einsicht, dass die Offenbarung als solche der Schrift vorausliegt und dass zur Offenbarung ein verstehendes Subjekt gehört, das die Offenbarung empfängt. Als Konzilsberater von Kardinal Frings konnte Ratzinger die Festschreibung von Schrift und Tradition als den beiden Offenbarungsquellen ebenso verhindern wie die gleichermaßen verhängnisvolle These von der „materialen Vollständigkeit“ der Heiligen Schrift in der Offenbarungskonstitution „Dei verbum“.

Kritik am naiven Fortschrittsoptimismus

 

Als Konzilstheologe hat Ratzinger wesentlich dazu beigetragen, dass in der Offenbarungskonstitution „Dei verbum“ die Vorgängigkeit der Schrift von ihren Bezeugungsformen in Schrift und Tradition unterschieden wurden. Auch an der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ hat Ratzinger mitgearbeitet, indem er sich mit der Kollegialität der Bischöfe, dem zentralen Problem der gesamten Kirchenversammlung, befasste. Auch die Verankerung der Missionstätigkeit im Wesen der Kirche im Missionsdekret „Ad gentes“ geht auf Ratzinger zurück. Mit seiner Kritik am falschen Fortschrittsoptimismus der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ suchte er frühzeitig der unkritischen Stellung der katholischen Kirche zur Moderne entgegenzuwirken. 2008 hat Papst Benedikt die Herausgeberschaft seiner Werke in die Hände des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre Erzbischof Gerhard Ludwig Müller und des Bischofs von Regensburg Rudolf Voderholzer gelegt. Mit dem raschen Voranschreiten der Werkausgabe wird der Rang von Papst Benedikt XVI. als einem modernen Klassiker des theologischen Denkens immer deutlicher aufleuchten. In allen seinen Ämtern setzte Papst Benedikt XVI. durch die Einheit von Theologie und Verkündigung in seinen biblisch-christologischen Predigten unübertroffene Maßstäbe. So bleibt nur der Dank für das monumentale theologische Lebenswerk, das Papst Benedikt der Kirche geschenkt hat.