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Presseschau - Detail

Fesselnde Glaubensgespräche

DT vom 26.01.2017, Nr. 11, S. 6 von Michael Karger

Die Interviewbände von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt liegen neu ediert für die Gesamtausgabe seiner Werke vor.

 

Während die Interviewbücher, die Papst Benedikt in seiner Amtszeit als Kurienkardinal und als Papst veröffentlicht hat, innerhalb der Werkausgabe erscheinen, steht der Papa Emeritus mit seinem neuesten Interviewband „Letzte Gespräche mit Peter Seewald“ auf der Bestsellerliste. Den beiden Teilbänden (13/1 und 2) geht ein nobles Vorwort von P. Federico Lombardi SJ, dem Pressesprecher von Papst Benedikt, voraus. Für Lombardi sind die Interviewbücher „ein integraler, kein sekundärer Bestandteil“ des kirchlichen Dienstes von Papst Benedikt. Allein die Tatsache, dass Benedikt „bewusst die Hilfe von professionellen Medienexperten … in Anspruch genommen“ habe, um zu einer größeren Öffentlichkeit zu sprechen, zeige, welch „außerordentlich wichtiges Instrument“ sie für ihn darstellen. Deshalb verdienen es diese Gespräche in den Augen von Lombardi, „einen eigenen Platz im großen Rahmen der gesammelten Schriften“ einzunehmen. 

 

Mit dem italienischen Journalisten Vittorio Messori führte Kardinal Ratzinger im August 1984 während seines Sommerurlaubs in Brixen ein Gespräch, das dann unter dem Titel „Zur Lage des Glaubens“ (1985) zuerst auf Italienisch und bald darauf in deutscher Übersetzung erschienen ist. Im Vorwort zur Neuausgabe (2007) erinnerte sich Papst Benedikt an die Reaktionen, die diese „Sammlung von Denkanstößen“ ausgelöst hatte: Sie seien „für viele ein Schock, für sehr viele aber auch eine Ermutigung und ein Zeichen der Hoffnung gewesen“.

 

Schockiert waren manche darüber, dass Ratzinger die reale Krise des Glaubens und der Kirche nach dem Konzil offen angesprochen hat. Wobei er keine Zweifel daran ließ, „dass die Aussagen des Konzils selbst den rechten Weg zeigen“, weil es dem Konzil um die „Erneuerung in der Kontinuität des Glaubens und nicht (den) Bruch mit ihm“ gegangen sei. Für Ratzinger war der Wendepunkt in der Konzilsrezeption das Jahr 1973, als in der Zeitschrift „Concilium“ das Zweite Vatikanum nur noch als bloßer Ausgangspunkt zu viel weitergehenden Kirchenreformen verstanden worden sei. Die ersten zehn Jahre nach dem Konzil seien für die Kirche „äußerst negativ“ verlaufen. Was mit Selbstkritik begann, habe in Selbstzerstörung geendet. Benannt wird die Krise des Kirchenverständnisses als Ursache der Glaubenskrise. Kirche sei eben keine menschliche Konstruktion, sondern habe eine von Gott gewollte Struktur, die dadurch auch „unantastbar“ ist. Ratzinger setzt die eucharistische Ekklesiologie gegen das „Jesus-Projekt“ und die Projekte der sozialen Befreiung. Kirche ist nicht demokratisch, sondern sakramental: Entscheidend sei das Hineingenommenwerden in den Leib Christi durch Taufe und Eucharistie.

 

Zur Kirche gehöre auch die episkopale Struktur, die nicht identisch sei mit einer „Föderation von Nationalkirchen“. In den Bischofskonferenzen stellt Ratzinger einen „Mangel an Sinn für die individuelle Verantwortung“ des einzelnen Bischofs fest: Keine Bischofskonferenz „hat als solche eine lehramtliche Funktion. Entsprechende Dokumente verdanken ihr Gewicht allein der Zustimmung, die ihnen von den einzelnen Bischöfen gegeben wird.“ Zur Krise der Theologie gehört, dass Dogmen heute von Theologen als Anschlag auf die Freiheit der wissenschaftlichen Theologie verstanden werden. Die Krise der Katechese habe damit begonnen, dass die Orientierung am Glaubensbekenntnis, dem Vaterunser, dem Dekalog und den Sakramenten weitgehend aufgegeben wurde. Eine Folge davon ist, dass viele Christen heute „unfähig zu einer Gesamtsicht ihrer Religion“ seien.

 

Zur Krise der Moral habe die Vorherrschaft des jeden moralischen Sinn zersetzenden Konsequentialismus beigetragen: „Nichts ist in sich gut oder böse; die Güte eines Aktes hängt einzig von seinem Zweck und von seinen vorhersehbaren und kalkulierbaren Konsequenzen ab.“ Die offensichtliche Krise der Mariologie bleibt nicht ohne schwere Folgen. Wenn die Dogmen über Maria aufgegeben werden, ist für Ratzinger auch der Christusglaube in Gefahr.

Die Krise der Liturgie zeige sich in ihrer „rationalistischen Verflachung“ und „pastoralen Infantilisierung“. Nur die Heiligen und die kirchliche Kunst sind für Ratzinger die einzige überzeugende Apologie des Christentums, darum müssen Christen „aus ihrer Kirche eine Heimstatt des Schönen – folglich des Wahren – machen, ohne dass die Welt zu einem ersten Kreis der Hölle wird“. Die Krisenerscheinungen des Skeptizismus und Relativismus werden durch Theorien wie die vom „anonymen Christen“ gefördert. Falle der Wahrheitsanspruch des Christentums, sind Mission und Taufe überflüssig, da alle Religionen zu gleichwertigen Heilswegen erklärt werden.

 

In der Villa Cavalletti, einem ehemaligen Exerzitienhaus, das die Integrierte Gemeinde den Jesuiten abgekauft hat, fanden 1996 die Gespräche zwischen Kardinal Ratzinger und dem Journalisten Peter Seewald statt, die dann unter dem Titel „Salz der Erde“ erschienen sind. Die biografischen Angaben im ersten Kapitel ergänzen die Autobiographie „Aus meinem Leben“.

Zur Form der Kooperation von Kirche und Staat in Deutschland sagt der Kardinal, dass er „nicht grundsätzlich“ gegen ein stärkeres Trennungsmodell eingestellt sei. Trennung von Staat und Kirche bezeichnet er als „urchristliches Vermächtnis“ und einen entscheidenden „Freiheitsfaktor“. Staaten sind selbst keine sakralen Mächte, sondern „lediglich eine Ordnung, die ihre Grenze findet in einem Glauben, der nicht den Staat anbetet, sondern einen ihm gegenüberstehenden und ihn richtenden Gott“. Zu Luther heißt es, dass man sich auch die Frage stellen müsse, „welche Fragwürdigkeiten durch die Reformation in den deutschen Charakter hereingetreten sind“. Welche Fragwürdigkeiten dies sind, bleibt leider unbeantwortet. Kirche müsse stets eine „Gegenbewegung zur herrschenden Weltanschauung“ sein.

 

Erstmals auf Deutsch liegt nun das bisher nur in der niederländischen Ausgabe veröffentlichte Kapitel über die Lage der Kirche in Holland und Belgien vor. Zum Wesen der Liturgie gehöre es, dass sie nicht von Fachleuten erfunden, nicht selbstgemacht, sondern von der Kirche vorgegeben ist. Nur so könne der Glaubende „wirklich den Jahrtausenden und durch sie hindurch dem Ewigen“ begegnen. Auch der bekannte Kanon der Kritik (Frauenordination, Empfängnisverhütung, Zölibat, wiederverheiratete Geschiedene) wird nicht ausgespart. Für wiederverheiratete Geschiedene „könnte es vielleicht in Zukunft auch eine außergerichtliche Feststellung geben, dass die erste Ehe nichtig gewesen ist. Dies könnte dann vielleicht auch durch die erfahrene Seelsorge vor Ort festgestellt werden. Solche Rechtsentwicklungen, die entkomplizieren können, sind denkbar.“ Allerdings betont Ratzinger, „der Grundsatz, dass eine Ehe unauflöslich ist und dass jemand, der die gültige Ehe seines Lebens, das Sakrament, verlassen hat und in eine andere Ehe eingetreten ist, nicht kommunizieren kann, der Grundsatz als solcher gilt in der Tat definitiv“.

 

Kirche ist, so ein immer wiederkehrender Grundgedanke, stets Senfkorn und mächtiger Baum zugleich, „es ist immer gleichzeitig Karfreitag und Ostern. Der Karfreitag ist nie einfach hinter uns, … und die Kirche ist nie ein fertig ausgewachsener Baum, dann würde sie nämlich auch irgendwann vertrocknen und aufhören, sondern sie ist immer wieder auch in der Senfkorn-Situation.“

 

In „Salz der Erde“ antwortete Ratzinger auf eine Sammlung von Einzelfragen, „die der heutige Mensch an die Kirche stellt und die ihm oft den Zugang zum Glauben versperren“. Demgegenüber hat das zweite Interviewbuch mit Peter Seewald, in das der Präfekt der Glaubenskongregation im Jahr 2000 einwilligte, einen deutlich systematischeren Aufbau. Gegliedert in die Kapitel Gott, Jesus Christus und Kirche, kann man den Band als Ratzingers kurzgefasste Glaubenslehre, als seinen kleinen Katechismus verstehen. Wie sich das Zueinander der Gesprächspartner, die sich diesmal in der Abtei Montecassino trafen, verändert hat, darüber schreibt der Kardinal im Vorwort zur Taschenbuchausgabe (2002): „… der Journalist Peter Seewald, der als suchender Agnostiker im Dialog mit mir das Buch ,Salz der Erde‘ geschaffen hatte, war inzwischen zur katholischen Kirche zurückgekehrt, der er in seiner Jugend angehört hatte …“. Grundthemen sind etwa die Bibelhermeneutik, die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament: „Die alttestamentlichen Texte sind dabei ein erster Schritt. Sie bleiben … aus sich selbst unverständlich.“ Beispiel: „In Babel ist die Einheit der Menschheit und der Versuch, selber Gott zu werden, … ausschließlich an das technische Können gebunden.“ Gegenstück zur Sprachverwirrung ist das Pfingstwunder: Eine Einheit, die Gott durch ein Verstehen im Herzen ohne verordnete Einheitssprache schafft. Von hierher werde der babylonische Turmbau erst verständlich. Zur Christologie: Gott fügt sich „in einen Geschichtszusammenhang ein, der ein Weg auf ihn hin ist“. Zur Jungfrauengeburt: Ratzinger widerspricht entschieden der Behauptung, dass eine theologische Aussage nichts mit Biologie zu tun habe, und nennt diese Einstellung „Manichäismus“. „… wenn der Mensch nicht auch körperlich, biologisch einbezogen ist, dann ist die Materie irgendwie verachtet und weggeschoben, dann ist die Menschwerdung letztlich eine Scheinangelegenheit.“ Ausdrücklich spricht sich der Kardinal gegen den Titel „Miterlöserin“ für Maria aus. Wichtig im Lutherjahr ist die damalige Aussage: Rechtfertigung allein aus dem Glauben muss „aufgebrochen“ werden: „In dem Sinn, dass der Glaube zunächst die einzige Eingangstür ist, durch die die Gnade zu uns hereinritt, dass aber dann dieser Glaube, … in der Liebe wirksam wird.“ Entgegen der Auffassung des Luthertums, dass die Schrift allein genüge und es kein kirchliches Lehramt bräuchte, betont Ratzinger die Notwendigkeit einer Auslegungsinstanz mit Entscheidungsvollmacht.

 

Im Juli 2010, fünf Jahre nach seiner Wahl zum Nachfolger des Heiligen Petrus, führte Papst Benedikt XVI., diesmal in seinem Sommersitz Castel Gandolfo, erneut ein zur Veröffentlichung gedachtes Gespräch mit Peter Seewald. Diese Zwischenbilanz des Pontifikats erschien unter dem Titel „Licht der Welt“ und stand ganz im Zeichen aktueller schwerer Erschütterungen der Kirche und des Petrusamtes. Papst Benedikt stellt fest, dass die Pressearbeit des Vatikan „versagt hat“ und macht sie nun sozusagen selbst. Er beginnt mit dem Eingeständnis, dass „er nicht dazu beschaffen ist, der Erste zu sein und die Verantwortung des Ganzen zu tragen“ und dass er seine Wahl zum Pontifex als „Hinrichtung“ empfunden hat: „… der Gedanke an die Guillotine ist mir gekommen: Jetzt fällt sie herunter und trifft dich.“

 

Offen werden die Krisenphänomene – Benedikt spricht von einer „großen Skandalperiode“ – wie der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker angesprochen. Mitverantwortlich macht Benedikt den Konsequentialismus als Fehlform der Morallehre, der keine in sich schlechten Handlungen kenne. Des weiteren habe man das kirchliche Strafrecht nach dem Konzil kaum noch angewandt: „Es herrschte das Bewusstsein, die Kirche dürfe nicht Rechtskirche, sondern müsse Liebeskirche sein; sie dürfe nicht strafen. So war das Bewusstsein dafür, dass Strafe ein Akt der Liebe sein kann, erloschen.“

Persönlich wurde Benedikt massiv angegriffen, als unmittelbar nach der Aufhebung der Exkommunikation der vier unrechtmäßig durch Erzbischof Lefebvre geweihten Bischöfe bekannt wurde, dass einer davon sich als Leugner des Holocaust hervorgetan hatte. Es war umso bitterer für den Papst, als sich herausstellt hat: Besagter Bischof Williamson „war Anglikaner und ist von dort zu Lefebvre übergetreten … er hat nie in der Großkirche, nie in der Gemeinschaft mit dem Papst gelebt.“ Nach dem überraschenden Amtsverzicht erschien die folgende Interview-Äußerung in einem neuen Licht: „Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag seines Amtes nicht mehr bewältigen kann, dann hat er das Recht, unter Umständen auch eine Pflicht, zurückzutreten.“ Bedenkenswert ist nach wie vor das ganz an der konziliaren Kollegialitätslehre geprägte Amtsverständnis von Papst Benedikt, das besagt, „dass der Papst nur ein Erster im Miteinander sein kann, und nicht jemand, der als absoluter Monarch einsame Entscheidungen treffen und alles selber machen würde“.

In allen vier Interview-Bänden wird das Thema Liturgie und ihre rechte Feier angesprochen. Wohl nicht ohne Mitwirkung von Kardinal Ratzinger hat Papst Johannes Paul II. 1984 ein Indult erlassen, das Priestern die Feier der Messe nach dem Missale von 1962 leichter möglich machte. Mit dem Motu proprio „Summorum pontificum“ (2007) ging Papst Benedikt diesen Weg konsequent weiter, indem er jedem Priester die Messfeier im überlieferten römischen Ritus freistellte. Im Interview begründet er diesen Schritt aus der Kontinuität des Glaubens und Betens der Kirche: „Wir können nicht sagen: Vorher war alles verkehrt, jetzt ist alles richtig; denn in einer Gemeinschaft, in der das Beten und die Eucharistie das Allerwichtigste sind, kann nicht etwas ganz verkehrt sein, was früher das Allerheiligste war.“

 

Allen Interviews gemeinsam ist die eucharistische Ekklesiologie: Kirche ist ein von Christus her geeinter Organismus. Diese Einigung zum Leib Christi geschieht in der Eucharistie, die darum sich auf den Auferstandenen hin öffnen muss und keinesfalls sich in der Selbstdarstellung der Gemeinde verschließen darf. Während seines Pontifikats hat Benedikt immer wieder auch Zeit zum Bücherschreiben gefunden. Neben den Leitgedanken der Zusammenführung von Glaube und Vernunft trat die Abfassung und Publikation seines bedeutenden christologischen Hauptwerkes „Jesus von Nazareth“. Es ging Benedikt dabei um eine „Auslegung der Schrift, die nicht einem positivistischen Historismus folgt, sondern den Glauben als Element der Auslegung mit einbezieht“. Alle vier Interviews sind weit mehr als nur Reaktionen auf Krisenphänomene oder Kirchenpolitik. In imponierender Geschlossenheit und Stringenz entfaltet Papst Benedikt eine zugängliche Gesamtschau des katholischen Glaubens.

In der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ von Bertolt Brecht bittet ein kleiner Zollbeamter den Philosophen Laotse, doch seine Lehre für ihn aufzuschreiben. Weil der Zöllner somit in die Entstehungsgeschichte des Werkes gehört heißt es: „Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/ Dessen Name auf dem Buche prangt!/ Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./ Darum sei der Zöllner auch bedankt.“ Darum seien Messori und Seewald für ihren Anteil an den Dialogen auch bedankt.

 

Joseph Ratzinger: „Im Gespräch mit der Zeit.” 2 Bände (Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften Bd. 13/1 und 2), gebunden, zusammen 985 Seiten, Verlag Herder, Freiburg 2016, EUR 50,– (Bd 13/1) und EUR 60,– (Bd. 13/2)