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Presseschau - Detail

Augustins Kirchenlehre verpflichtet

DT vom 08.09.2011, Nr. 107, S. 6 von Michael Karger

Band I der Gesammelten Schriften Joseph Ratzingers liegt vor: Doktorarbeit und Studien über die Kirchenväter. 

 

Am 8. Dezember 1962 war die erste Sitzungsperiode des Konzils in Rom zu Ende gegangen. Der selige Papst Johannes XXIII. hatte die versammelten Bischöfe ermutigt, ihr Mitspracherecht auch gegen die Weichenstellungen des Heiligen Offiziums und der kurialen Konzilsregie wahrzunehmen. Auf die erste Sessio zurückblickend sagte der Papst beim Schlussgottesdienst in St. Peter: „In einem solch weiten Rahmen versteht sich auch, wie dabei mancher Tag gebraucht wurde, um zu einem Einvernehmen zu gelangen über das, was – unbeschadet der Liebe – Anlass zu begreiflichen und besorgten Meinungsverschiedenheiten war. Auch dies findet seine Erklärung in dem Willen zur Hervorhebung der Wahrheit und hat im Angesicht der Welt die heilige Freiheit der Kinder Gottes gezeigt, wie sie sich in der Kirche findet.“

 

Durch äußere Umstände bedingt endete das Erste Vatikanum vorzeitig, ohne die geplante Lehre von der Kirche als Ganzes vorlegen zu können. Einzig die Lehre vom Primat und der Unfehlbarkeit des Papstes wurden verabschiedet. Damit war dem Zweiten Vatikanum die Lehre von der Kirche von vornherein als Thema aufgegeben. Erst am Ende der ersten Sitzungsperiode begann die Diskussion der Väter über den vorgelegten Entwurf zur Ekklesiologie. Am 5. und 6. Februar 1963 fand in der Katholischen Akademie in München eine Konferenz der deutschen Bischöfe statt. Dort wurde unter anderem auch ein eigener deutscher Gegenentwurf eines Dekretes über die Kirche vorgestellt, an dem die Bischöfe Volk und Schröffer und die Theologen Grillmeier, Hirschmann, Rahner, Ratzinger, Schmaus, Schnackenburg und Semmelroth mitgearbeitet haben. Die genannten Theologen referierten und diskutierten auf der Tagung mit den Bischöfen bereits im Hinblick auf die zweite Sitzungsperiode des Konzils. Nur wenige Tage später fand am 9. und 10. Februar am gleichen Ort eine öffentliche Tagung über das Konzil statt, auf der auch der Bonner Professor für Fundamentaltheologie Joseph Ratzinger, Konzilsberater des Erzbischofs von Köln Kardinal Josef Frings über „Wesen und Grenzen der Kirche“ sprach. Ratzinger informierte die Zuhörer über den Stand der Diskussion über die Lehre von der Kirche in der ersten Sessio: „Bei den Beratungen des ekklesiologischen Schemas (Entwurfs) im Dezember vergangenen Jahres ist etwas für den ersten Blick höchst Sonderbares geschehen. Zwanzig Jahre zuvor, im Jahre 1943, war die Enzyklika ,Mystici corporis‘ erschienen, die von allen freudig begrüßt wurde, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Kirche als Leib des Herrn verstehen lehrte. Das neue Schema über die Kirche baute gleichfalls auf diesem Grundgedanken auf, aber gerade dies wurde nun zum hauptsächlichen Ansatzpunkt der Kritik.“

 

Die Kirche, der wahre Leib des Herrn

 

Auf der Grundlage seiner Dissertation über den Kirchenbegriff des heiligen Augustinus konnte Ratzinger die authentische Lehre der Kirchenväter über die Kirche wiederherstellen und fruchtbar in die Konzilsdebatte einbringen. Über den Gewinn für die Augustinusforschung im engeren Sinne hinaus liegt hier die theologiegeschichtliche Bedeutung der Promotionsschrift „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. Das Thema wurde als Preisaufgabe der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München vom damaligen Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen gestellt. Eine von drei unter Kennwort eingereichten Arbeiten war der eindeutige Gewinner des Wettbewerbs. Es war die Preisschrift von Söhngens Meisterschüler Joseph Ratzinger, die dieser während des Alumnatskurses zur Vorbereitung auf die Priesterweihe im Freisinger Klerikalseminar fertiggestellt hatte. Die Annahme der Arbeit im Sommer 1951 schloss ihre Anerkennung als Promotionsschrift ein und bedeutete für den jungen Diakon Ratzinger die Bestätigung seiner wissenschaftlichen Befähigung und den Grundstein seiner gesamten Gelehrtenlaufbahn. Erschienen ist die Promotionsschrift 1954 in der Reihe „Münchener Theologische Studien“. Ratzingers begriffsgeschichtliche Studie erbrachte, dass die Väter die Kirche „Corpus verum“ („wahren Leib des Herrn“) nannten. Die Eucharistie nannten sie „Corpus mysticum“, wobei sie unter „mystisch“ das verstanden, was wir mit „sakramental“ meinen. Kirche wurde stets von der Eucharistie her verstanden und gelebt. Weder bei Paulus noch bei den Vätern wurde die Kirche „Corpus Christi mysticum“ genannt, sondern nur „Leib Christi.“

 

Erst im 13. Jahrhundert ereignete sich eine folgenschwere Bedeutungsverschiebung, als man nicht mehr vom „Leib Christi“, sondern vom „mystischen Leib“ zu sprechen begann und damit die Kirche als Körperschaft unter dem Begriff des „mystischen Leibes der Kirche“ verstand.

 

Von den Reformatoren wurde das Verständnis der Kirche als Körperschaft als Veräußerlichung und Legitimation des päpstlichen weltlichen Machtanspruchs abgelehnt und der Leib-Christi-Begriff nur noch für die unsichtbare Innenseite der Kirche verwandt. Auf katholischer Seite wurde daraufhin die Kirche nicht mehr vom Leib-Christi-Begriff her definiert. Nach dem Konzil von Trient ging man von der Kirche als „Volk Gottes“ aus, das unter Leitung der rechtmäßigen Hirten stand. Erst in der Romantik wurde der Leib-Christi-Gedanke wiederentdeckt. Allerdings wurde dabei folgenschwer „mystisch“ von Mystik abgeleitet und nicht im ursprünglichen Sinn vom Sakrament her verstanden. Die Folge war das Nebeneinander eines hierarchisch-institutionellen Kirchenbildes und einem mystisch verinnerlichten. Neigte die eine Seite zur autoritären Erstarrung, so verschwebte die andere in einer idealisierten und unwirklichen Kirchenherrlichkeit. Ratzinger fragte danach, wie das „Ineinander von Herrlichkeit und Niedrigkeit“ zu denken sei, denn „man konnte auf die Dauer nicht daran vorbeigehen, dass das Innere nur erscheint und wirklich ist im Äußeren und dass das Äußere nur erträglich ist, wenn es untrennbar das Sichgewähren des Inneren bedeutet.“

 

In der Zeit zwischen den Weltkriegen erhielt die Ekklesiologie durch die Vätertheologie und die Bibelwissenschaft neue Impulse. Die Kritik an einer individualistischen Mystik verband sich mit der Einsicht, dass die Schrift vom Ganzen des Gottesvolkes her denkt. Dies war der Stand der Diskussion 1963. Ratzinger konnte auf der Basis seiner Doktorarbeit zur Kirchenlehre der Väter und durch die Kenntnis der bahnbrechenden begriffsgeschichtlichen Studien des Jesuiten Henri de Lubac wesentliche Impulse geben. Sein Ausgangspunkt ist die Selbstbezeichnung der ersten Christen als ekklesia, in der sich die profane griechische Bedeutung Volksversammlung mit der „Versammlung des hörenden Volkes um den Sinai als Urbild israelitischer Volksversammlung“ verbunden hat. Die ekklesia versteht sich darum „als die Versammlung des endgültigen Israel, in der sich Gott sein Volk zusammenruft von allen Enden der Erde.“

 

Ekklesia hat für Ratzinger drei Bedeutungsaspekte: Kultgemeinde, Ortsgemeinde und Gesamtkirche. Von zentraler Bedeutung ist dabei, „dass die jeweilige Ortsgemeinde als die Darstellung der einen Gesamtwirklichkeit Kirche“ verstanden wird. In der Kultversammlung verwirklicht sich das Kirchesein jeder Ortsgemeinde. Damit gewinnt Ratzinger die biblisch fundierte eucharistische Kirchenlehre des heiligen Augustinus und der gesamten Patristik zurück: Die Glaubenden sind eins als ekklesia, das heißt „als Kultversammlung Gottes, in der sie das eine Brot essen, das sie zu einem Leib macht, in der sie das eine Wort bezeugen, durch das sie eines Geistes sind“. Volk Gottes wird sowohl im Neuen Testament wie bei Augustinus stets nur das Volk Israel genannt. Kirche ist Volk Gottes nur dadurch, „dass es vom Leib Christi und vom Wort Christi lebt und auf solche Weise selbst Leib Christi wird“. Kirche ist „Volk Gottes vom Leib Christi her“.

 

Dies war das Ergebnis von Ratzingers Augustinusstudie. Auch der Berufung der Zwölf liegt der Leib-Christi-Gedanke zugrunde: Jesus „hat Kirche endgültig gesetzt, indem er mit diesen Zwölf Abendmahl hielt und ihnen so das Neue gab, das sie von dem alten Israel unterschied“. Die eucharistische Ekklesiologie der Väter entspricht der paulinischen Bezeichnung der Kirche als „Leib Christi“, die für Ratzinger wiederum „nur in der Formulierung etwas Neues (ist), in der Sache ist sie einfach Auslegung dieses vom Herrn selbst gesetzten Sachverhaltes: dass das neue Gottesvolk vom Herrenmahl her seine eigentümliche Wirklichkeit empfängt“.

Kirche als Leib Christi meint eben nicht wie seit der Reformation und in der Romantik die mystische verborgene Innenseite der Kirche, sondern bezeichnet ihr „Concretissimum“, „das zugleich freilich die innerste Tiefe ihres Lebens in sich trägt: die Feier des Herrenmahles“. Damit hat Ratzinger durch die Wiederentdeckung des biblisch-patristischen Kirchenverständnisses die „Untrennbarkeit von außen und innen, das Sein der Kirche als sacramentum Dei“ gefunden. Von dieser Mitte aus lässt sich dann auch „der Sinn des kirchlichen Amtes vom Primat bis zu den einfachsten Dienstleistungen“ begründen und verstehen.

Demjenigen Leser, der sich weniger für den speziellen Beitrag Ratzingers zur Augustinusforschung interessiert, sondern biographisch-theologiegeschichtlich die Herkunft seines eigenständigen Beitrags zur konziliaren Ekklesiologie beziehungsweise die Genese sowie die Grundzüge seiner eigenen Kirchenlehre kennenlernen will, seien darum über die Zusammenfassungen innerhalb der Dissertation hinaus folgende Leseempfehlungen zum Einstieg in diesen Band gegeben: Hilfreich ist der Beginn mit dem ausführlichen Vorwort von Kardinal Ratzinger zum erstmaligen Nachdruck der Promotion von 1992, man nehme eventuell noch den kurzen autobiografisch gefärbten Text „Gemeinde aus der Eucharistie“ (1980) hinzu und lese anschließend die deutsche Erstveröffentlichung „Der Kirchenbegriff im patristischen Denken“ (1965).

 

Diese wunderbare und nicht zu lange Gesamtschau der eucharistischen Ekklesiologie Ratzingers schließt auch das oben angesprochene dreigliedrige Amt in der Kirche mit ein. So verstanden erweist sich der Augustinusband als hervorragende Einführung in die insgesamt fast 1 500 Seiten umfassende Ekklesiologie von Papst Benedikt XVI. „Kirche – Zeichen unter den Völkern“, die im Rahmen der Werkausgabe 2010 (Bände 8/1 und 8/2) vorgelegt worden ist. Inhaltlich gliedert sich der Augustinusband in vier Teile: Teil A umfasst im Anschluss an die Dissertation sieben kleinere Studien zu Augustinus. Im Teil B sind erstmals alle Beiträge Ratzingers zur Theologie der Kirchenväter versammelt. Vollständig abgedruckt ist das Büchlein von 1971 „Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter“ als deutsche Erstveröffentlichung folgt der Lexikonartikel „Brüderlichkeit“, ursprünglich 1964 für das renommierte „Dictionnaire de Spiritualite“ geschrieben. Da der Artikel trotz mancher Überschneidungen mit der bereits in den achten Band eingegangenen Monographie „Die christliche Brüderlichkeit“ (1960) einen wesentlich ausführlicheren patristischen Teil enthält, haben sich die Herausgeber zu Aufnahme des Textes in den Väterband entschlossen. Hier folgt erstmals auf Deutsch „Der Kirchenbegriff im patristischen Denken“ (Italienisch und Niederländisch 1965). Im Teil C sind Lexikonartikel, Rezensionen und ein Geleitwort versammelt, die alle thematisch zur Augustinusforschung gehören. Sechs Predigten aus dem Zeitraum von 1965 bis 1992 beschließen den Textteil. Darunter ist die erstmalige Buchveröffentlichung der Predigt beim Requiem 1981 für Karl Forster, den Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in Bayern.

 

Zwei weitere Predigten, jeweils am Gedenktag des heiligen Augustinus gehalten (Angerkloster in München am 28. August 1982 und Thalmassing bei Regensburg am 28. August 1988), werden hier erstmals im Druck vorgelegt. Im Anhang folgen auf das Literaturverzeichnis die gewohnt zuverlässigen und stringenten editorischen Hinweise des wissenschaftlichen Herausgebers Rudolf Voderholzer. Bibliografische Nachweise, ein Schriftstellen- und Namensregister beschließen den Band.

 

Kritik am nachkonziliaren Gebrauch von „Volk Gottes“

 

Für das erstaunlich zügige Erscheinen der Werkausgabe ist besonders auch Bischof Gerhard Ludwig Müller zu danken, der das Institut Papst Benedikt XVI. in Regensburg gegründet und qualifizierte Fachleute mit der wissenschaftlichen Editionsarbeit unter seiner Herausgeberschaft beauftragt hat. Vorangestellt ist dem Patristikband ein Vorwort von Papst Benedikt XVI., in dem er in prägnanter Kürze nochmals das begriffsgeschichtliche Schicksal des Leib-Christi-Gedankens nachzeichnet. Zur Ekklesiologie des Konzils sagt der Papst, dass es uns „eine ekklesiologische Synthese geschenkt (hat), in der alle wesentlichen Elemente der großen biblischen und patristischen Tradition am rechten Platz stehen“.

 

Kritisch betrachtet der Heilige Vater die Verwendung des Begriffs „Volk Gottes“ in der Zeit nach dem Konzil. Es wurde ein „ganz äußerlich aufgefasster Begriff von Volk Gottes als die neue Botschaft des Konzils hingestellt“.

 

Besonders wichtig ist, dass Papst Benedikt die Communio-Ekklesiologie als eine authentische Formulierung der Kirchenlehre des Konzils versteht: „Auch wenn das Wort communio als Wort in den Konzilstexten noch nicht zentral ist, so ist doch sichtbar geworden, dass es den rechten Schlüssel zum Verstehen des Ganzen bringt. Die Ekklesiologie des Konzils ist Communio-Ekklesiologie und darum wesentlich eucharistische Ekklesiologie.“

 

Zurückblickend auf sechzig Jahre, die inzwischen seit der Promotionsschrift vergangen sind, stellt der Papst fest: Seine Arbeit über Augustins Kirchenverständnis habe „nicht nur die Tür zu einer lebenslangen Freundschaft mit dem heiligen Augustinus geöffnet, sondern mich auf die Spur der eucharistischen Ekklesiologie führte und mir so ein Verstehen der Realität Kirche geschenkt hat, das mit den tiefsten Intentionen des Zweiten Vatikanischen Konzils übereinstimmt und zugleich in die spirituelle Mitte christlicher Existenz hineinführt“.

 

Der bleibende theologiegeschichtliche Wert der Dissertation ist ihr wesentlicher Beitrag zur Rückgewinnung des eucharistischen Kirchenbegriffs aus den biblisch-patristischen Quellen. Der Konzilstheologe und Papst Joseph Ratzinger erweist sich als der authentische Interpret dessen, was Kirchesein nach der wahren Lehre des Konzils eigentlich bedeutet.

 

Joseph Ratzinger: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche. Die Dissertation und weitere Studien zu Augustinus und zur Theologie der Kirchenväter. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Gesammelte Schriften Band 1, herausgegeben von Gerhard Ludwig Müller, Verlag Herder Freiburg 2011, gebunden, 792 Seiten, EUR 60,–