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Agnostizismus – eine lebbare Option?

Quellangabe: Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe, Freiburg 1989, 16–18.


Die Gottesfrage kann ihrem Wesen nach nicht in die Grenzen wissenschaft­licher Forschung im strengen Sinn des Wortes hineingezwängt werden. In diesem Sinn ist die Behauptung eines ,,wissenschaftlichen Atheismus“ eine widersinnige Anmaßung, gestern ebenso wie heute und morgen. Umso mehr aber drängt sich die Frage auf, ob nicht die Gottesfrage die Grenzen des menschlichen Vermögens überhaupt überschreite und insofern Agnostizismus die einzig rechte Haltung des Menschen sei: seinsgemäß, ehrlich, ja, im tiefsten Sinn des Wortes fromm“ – Anerkennung dessen, wo unser Zugriff und unser Blickfeld enden, Ehrfurcht vor dem, was uns nicht eröffnet ist. Sollte es vielleicht die neue Frömmigkeit des Denkens sein, das Unerforschliche zu lassen und sich mit dem zu bescheiden, was uns gegeben ist?

[…] Können wir als Menschen die Gottesfrage einfach beiseitelassen – die Frage nach unserem Woher, unserem Wohin und nach dem Maß unseres Seins? Können wir einfach hypothetisch leben, ,,als ob es Gott nicht gäbe“, auch wenn es ihn vielleicht gibt? Die Gottesfrage ist für den Menschen kein theoretisches Problem wie etwa die Frage, ob es außerhalb des periodischen Systems der Elemente noch weitere bisher unbekannte Elemente gebe usw. Im Gegenteil, die Gottesfrage ist eine eminent praktische Angelegenheit, die sich auf alle Bereiche unseres Lebens auswirkt. Wenn ich also in der Theorie den Agnosti­zismus gelten lasse, muss ich mich in der Praxis doch zwischen zwei Möglich­keiten entscheiden: leben, als ob es Gott nicht gäbe, oder leben, als gäbe es Gott und als sei er die maßgebende Wirklichkeit für mein Leben. Tue ich ersteres, so habe ich praktisch eine atheistische Position bezogen und eine möglicherweise unwahre Hypothese zur Basis meines ganzen Lebens gemacht. Entscheide ich mich für die zweite Wahl, so bewege ich mich wiederum in einer rein subjekti­ven Gläubigkeit, wobei einem freilich Pascal in den Sinn kommen mag, dessen ganzes philosophisches Ringen am Beginn der Neuzeit um diese denkerische Konstellation kreiste. Weil er zu der Überzeugung kam, dass die Frage im bloßen Denken in der Tat nicht zu lösen sei, empfahl er dem Agnostiker, es mit der zweiten Wahl zu wagen und zu leben, als gäbe es Gott. Er werde dann im Laufe des Experiments und nur durch dieses zu der Erkenntnis kommen, dass er richtig gewählt habe […]. Wie dem auch sei – der Glanz der agnostischen Lösung hält ganz offenkundig näherer Prüfung nicht stand. Als reine Theorie erscheint er höchst einleuchtend, aber Agnostizismus ist seinem Wesen nach mehr als Theorie – die Praxis des Lebens steht dabei zur Frage. Und wo man ihn in dieser seiner wahren Reichweite zu ,,praktizieren“ versucht, entgleitet er wie eine Seifenblase; er löst sich auf, weil der Wahl nicht zu entrinnen ist, die er gerade vermeiden möchte. Vor der Frage nach Gott ist dem Menschen Neutralität nicht eingeräumt. Er kann nur ja oder nein sagen und dies jeweils mit allen Konsequenzen bis in die kleinsten Dinge des Lebens hinein.





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