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Warum weiß Jesus nicht alles, wenn er Gott ist?

Quellangabe: Laien fragen. Theologen antworten (1968), in: MIPB 4 (2011) 23f.


Das Problem der Bedeutung des Verses Mt 24, 36 (Was jenen Tag und jene Stunde angeht, so kennt sie niemand, nicht einmal die Engel des Himmels, nicht einmal der Sohn, sondern allein der Vater) wird seit den Väterzeiten unter Dogmatikern und Exegeten heftig diskutiert. Im Laufe der Zeit haben sich zwei Hauptantworten herauskristallisiert:

         1. Allen Lösungen ist die durch das Dogma verbürgte Erkenntnis gemeinsam, dass in Christus zwischen seinem menschlichen und göttlichen Wissen unterschieden werden muss. Christus war nicht nur der gleichwesentliche Sohn des ewigen Vaters, sondern ebenso sehr voller, gleichwesentlicher Mensch mit uns, der, wie die Dogmen des 5. und 7. Jahrhunderts herausgestellt haben, auch einen eigenen menschlichen Verstand und menschlichen Willen und so auch eine menschliche Weise des Wissens besaß. Klar ist weiterhin, dass sich die Aussage Mt 24, 36 auf das menschliche, nicht auf das göttliche Wissen Jesu bezieht. Umstritten ist allein die Frage, wie sich menschliches und göttliches Wissen in Jesus zueinander verhalten. Die Theologie des Mittelalters kam diesbezüglich zu der Meinung, dass beiderlei Wissen sich so eng durchdringe, dass Jesus auch als Mensch an der göttlichen Allwissenheit Anteil habe. Um dennoch das Problem von Mt 24,36 und ähnlichen Versen lösen zu können, unterscheidet man dann zwischen mitteilbarem und nichtmitteilbarem Wissen. Zwar habe Jesus für sich selbst kraft seiner Anteilnahme am Ewigen Wort alles Wirkliche geschaut, aber er sei mit einem festumrissenen Offenbarungsauftrag in diese Welt getreten und zu diesem Offenbarungsauftrag gehörte nicht das Datum des Jüngsten Tages. So konnte er mit Recht in Bezug auf das ihm zur Mitteilung zur Verfügung stehende Wissen sagen, dass es Zeit und Stunde des Weltendes nicht umfasse. Das Wissen darüber wird gleichsam nicht freigegeben, es gehörte nicht zum göttlichen Offenbarungsbestand. 

         2. Moderne Deutungen gehen noch einen Schritt weiter. Sie sagen, dass Jesus mit dem Grunde seiner menschlichen Seele immer eingetaucht war in das göttliche Wort, mit dem er ja eine Person bildete, dass aber diese Verbindung, die den Grund seines Seins prägte, nicht auch sein menschliches Bewusstsein mit allen Details der göttlichen Allwissenheit erfüllte, sondern es nur so weit durchdrang, soweit dies für seinen Offenbarungsauftrag nötig war. Auf diese Weise wird es möglich, ein echtes menschliches Wissen und Wachsen bei Jesus anzunehmen, ohne dass man seine seinsmäßige Einheit mit der zweiten Person der Trinität in Frage stellt. Das Gesamtbild der Evangelien, die uns Jesu wahre Menschlichkeit so unmittelbar erleben lassen, wird auf diese Weise verständlicher. Nach dieser Auslegung konnte Jesus mit vollem Recht sagen, dass er, obgleich vom Grunde seines Seins her der „Sohn“, dennoch das Datum des Letzten Tages nicht wisse, weil der göttliche Grund seines Seins seinen menschlichen Verstand nicht darüber belehrte. Wie Sie sehen, ist diese Lösung mit der Unterscheidung von mitteilbarem und nichtmitteilbarem Wissen zwar verwandt, aber sie streift den etwas fiktiven Charakter dieses Gedankens ab und versucht, ebenso dem vollen Ernst der Gottessohnschaft Jesu wie dem vollen Ernst des biblischen Wortes gerecht zu werden.

 





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