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„Hinabgestiegen in die Demut Christi“


Die folgende Predigt wurde am Karfreitag, 24. März 1989, in der Kirche des Collegio Teutonico, Santa Maria della Pietà, in Rom gehalten.

 

1. Lesung: Jes 52,13–53,12

2. Lesung: Hebr 4,14–16; 5,7–9

Evangelium: Joh 18,1–19,42

(Quelle: JRGS 14, 412–417)

Liebe Brüder und Schwestern!

 

Der heilige Ignatius von Antiochien hat um das Jahr 100 auf seinem Weg zum Martyrium in seinem Brief an die Kirche von Ephesus einen geheimnisvollen Satz eingefügt, in dem er sagte: „Wenn wir das Wort Christi besitzen, dann werden wir auch sein Schweigen hören.“[1] Damit das Wort wirke und damit wir durch sein Schweigen ihn erkennen. In die ganze Tiefe der Worte Jesu treten wir nur dann ein, wenn wir sie nicht nur als Rede betrachten, als Wort zerreden und auslegen, sondern wenn wir durch das Wort hindurch in den Grund des Schweigens uns vortasten, der erlittenen und gelebten Wahrheit, die diesem Wort erst seine Beständigkeit und seine Kraft gibt. Jesus ist mehr als ein großer Lehrer, ein großer Philosoph gewesen, der der Welt Worte und Gedanken hinterlässt, über die wir dann nachdenken, die wir weiterdenken und vielleicht auch in Programme und Taten umsetzen. Und er ist mehr gewesen als ein Politiker, der Programme schafft, der die Welt ändert durch Taten, in die sie gekommen sind, und selbst wenn sie lange weiterwirken, doch auch vergehen. Worte und Taten sind das eine. Er hat mehr gegeben: das Sein, Sich-Selbst, die Liebe seines Herzens. Und nur so kann der tiefste Grund des Menschen und der Welt erreicht, nur so kann der Mensch erlöst werden. Denn der Hass kann nicht überwunden werden durch einen anderen Hass, sondern nur, indem er in Liebe ausgehalten, erlitten und so an sein Ende gebracht wird. Die Gewalt kann nicht überwunden werden durch eine andere und stärkere Gewalt, sondern wiederum nur durch die Kraft der Liebe, die ihr standhält und die so zu ihrem Ende führt und zu ihrer Verwandlung. Wir Menschen heute wollen nur noch die Kraft des Wortes, des Gedankens und der Taten und selbst die Liebe wollen wir in den Augenblick des Genusses umwandeln und uns befreien von der Passion, der Veränderung, des Sich-Verlierens, in die sie uns hineinführen möchte. Und weil es so ist, weil wir vom Leid gar nicht mehr sprechen, es nach Möglichkeit abschaffen wollen, rückt uns das Geheimnis Jesu immer ferner, werden wir immer unfähiger, ihn zu verstehen, an sein Eigentliches heranzudringen, wird unser Christsein immer oberflächlicher, immer ferner von der eigentlichen Mitte, die es trägt, die unser Leben verwandelt hat, die Welt verwandelt und uns zu seinen Jüngern macht. In der ganzen Liturgie des Karfreitags geht es letzten Endes darum, uns in das Schweigen Jesu hineinzuführen. Sie beginnt mit dem Augenblick des Schweigens zu Füßen des Kreuzes. Ihr Höhepunkt ist die schweigende Verehrung des Gekreuzigten. Und am Ende geht sie über in das Schweigen des Karsamstags, in das Verstummen vor dem Tode Jesu, vor dem ohnedies all unsere Worte leer und nichtig sind, in jenes Schweigen, das in die Stille der Anbetung hineinführt.

Und auch die Passionsgeschichte, die wir eben gehört haben, ist eigentlich nichts anderes als der Versuch der Evangelisten, das Schweigen Jesu gleichsam hörbar zu machen. Jenes Verstummen, in das seine Worte hineingehen, und das all seinen Worten erst ihre Tiefe gibt. All die einzelnen Szenen dieser Passionsgeschichte sind im Grunde Türen in das Schweigen Jesu hinein. Wir wollen in diesem Augenblick nur in eine, fast nebensächlich erscheinende Episode hineinzuschauen versuchen, um uns von ihr führen zu lassen, um etwas von dem Geheimnis des Schweigen Jesu verstehen zu lernen.

Ich meine die Szene der Entblößung Jesu und der Verteilung seiner Gewänder. Johannes hat sie mit einer besonderen, fast umständlichen Liebe gestaltet, und wo er dies tut, will er uns immer sagen, dass hier etwas sichtbar wird, was über das Zufällige des bloß Anekdotischen und Augenblicklichen hinausgeht.

Jesus wird seiner Kleider beraubt. Das ist zunächst die Verstoßung in die äußerste Armut, in die letzte Besitzlosigkeit, aber es ist mehr als dies, es ist Entehrung, Entwürdigung. Er wird seiner sozialen Stellung beraubt. Er gehört nicht mehr zur Gesellschaft der Menschen, die etwas sind und etwas darstellen. Er ist ein Nichts geworden, das nicht mehr zählt und dessen Dinge man verteilen kann. So erinnert uns der so ausgestoßene, entehrte Jesus, dem alle Stellung weggenommen ist und aller Glanz äußerer Rollen und Darstellung an den Augenblick, an dem wir selbst einmal nackt und bloß vor Gottes Angesicht stehen werden: Wir, die wir uns so gern hinter unseren Rollen, hinter dem Schein unserer Werke verbergen, Meinung schaffen und dahinter nur armselig sind.

Aber nicht nur dies. Jesus geht gleichsam an den Anfang der Geschichte zurück, in jenen Uraugenblick hinein, aus dem die Not der Menschheit kommt. In den Augenblick, in dem Adam nicht mehr mit dem Willen Gottes umkleidet sein will, in dem er die Herrlichkeit Gottes als Störung und als Konkurrenz ansieht, Gott von sich wegtun will, um nur noch Mensch und aus sich selbst ein Gott zu sein. In diesem Augenblick, in dem er sich sozusagen vom Glanz Gottes befreit, um nur in seinem eigenen Licht zu stehen, um zu erkennen, dass er nichts ist, ein erbärmliches Lebewesen. Und er schämt sich seiner selbst. Wir sind an der Stelle angelangt, an der es um das Eigentliche der Erlösung geht. Der Herr geht in die Wurzel der menschlichen Geschichte, er steigt in die Wurzel unseres eigenen Seins hinab. Die Demut Gottes wandelt den Stolz des Menschen um und verwandelt ihn.

Wilhelm von St. Thierry, einer der großen Theologen des Frühmittelalters, hat diese Herzmitte des Erlösungsgeschehens, die so schwer in unsere Sinne und in unser Verstehen eindringt, in einem Dialog zwischen Vater und Sohn und von da ausgehend gestaltet. Gott sieht den Menschen, der nach Gottes Herrlichkeit greift und selbst alles haben will, in Gott nur Konkurrenz sieht und ihn deswegen wegstößt, um selbst ein Gott zu sein. Gott sieht den Menschen, der auf diese Weise der Torheit seines Leibes, seines Verdachts und seines Stolzes abgestürzt ist. Und nun sagt der Sohn zu ihm: „Wehe, nur das Elend weckt keinen Neid. So will ich denn nun den Menschen retten als der Erbärmlichste und der Letzte von ihnen, um in ihnen das Verlangen zu wecken meinen Willen nachzuahmen.“ In der Demut des entblößten Gottes, der alle Herrlichkeit abgelegt hat, begegnet uns die eigentliche Macht und Herrlichkeit Gottes, die uns den Weg zeigt und unsere Verwandlung ist.

So sind wir hier eigentlich bei dem Geheimnis der Taufe angelangt, die ja nichts anderes ist als dieses Hinabsteigen in die Demut Christi, das Neuwerden, das Anziehen Jesu Christi, das Anziehen seiner Gestalt, seiner Demut, seiner Wahrheit und seiner Liebe. Auch ein Zweites gehört zu dieser Szene. Es wird gelost um den Leibrock Christi, der von oben in einem Stück und ohne Naht gewebt ist. Die jüdische Überlieferung sagt uns, dass dies das Gewand des Hohepriesters ist, das nahtlose, von oben gewobene Gewand. Am Kreuz, in der äußersten Erniedrigung, steht Jesus da als der wahre Hohepriester der Welt. Später hat die jüdische Überlieferung den Gedanken hinzugefügt, dass Gott dem Adam nach seiner Sünde ein solches Gewand geschenkt habe, und dann wieder dem Mose und dem Aaron, die so gleichsam Stufen auf ihrem Weg zum Erlöser werden, der den Menschen wieder einkleidet in seine wahre Würde und in seine wahre Religion.

Philon von Alexandrien, der große jüdische Theologe an der Schwelle des Neuen Testamentes hat das weitere Motiv ausgedacht, indem er sagt: Der eigentliche Hohepriester der Welt ist der Logos, das ewige Wort, das die ganze Schöpfung als sein Gewand an sich zieht und zum lebendigen Gott zurückkehrt.[2]

Christus, der Hohepriester. Da kommt das andere Psalmwort noch dazu: „Du willst nicht Opfer und Gaben. Einen Leib hast du mir bereitet. Siehe, ich bin gekommen, um deinen Willen zu erfüllen“ (vgl. Ps 40, 7–9). Da ist erstmals ein Hohepriester, der nicht, wie es in der ganzen Religionsgeschichte geschieht, nur Ersatz gibt. Denn alles, was wir Gott geben, ist doch nur Ersatz für uns selbst. Und was soll Gott eigentlich damit? Ob es nun Stiere oder Rinder oder sonst irgendetwas ist. Hier geschieht erstmals wahrhaft hohepriesterliches Handeln. Er bringt nicht Ersatz, sondern sich selbst, sein Leben in seiner alles umfassenden Liebe.

Von daher erst können wir die ganze Tiefe des Abendmahlsgeschehens erfassen. Es ist deswegen zum ersten Mal in der Liturgiegeschichte der Erde nicht bloß Symbol, sondern Wirklichkeit. Alles an diesem Geschehen hängt an diesem neuen Opfer, das nach dem Gesetz der Liebe geschieht, und in dem das Herz des lebendigen Gottes selbst dargebracht wird. So lernen wir verstehen, was es heißt, Eucharistie zu feiern. Dass sie immer bedeutet: in diese Wirklichkeit hineintreten, ihn selbst empfangen und mit ihm im Sohn das Herz der Kinder Gottes zu empfangen. 

Die Kirchenväter haben in dem Rock ohne Naht noch ein anderes Bild gesehen. Er wurde für sie zum Bild der einen Kirche, die Gott selbst gewoben hat, von oben her, und die unzerstörbar eins ist, die die Bitte Jesu um Einheit, seine Todesbitte, erfüllt. Zu welcher Gewissenserforschung muss uns dieser Gedanke führen? Wir, die wir jeder auf seine Weise, die Kirche nach unserem Bild gestalten wollen, sie an uns ziehen wollen, sie dem Menschen annähern, sie so machen, wie wir sie möchten, damit sie endlich zugänglich sei, damit sie endlich zu unserer Existenz und zu unserer Zeit passe. Aber Einheit ist nicht Menschenwerk. Einheit kann nur von Gott kommen und alles, was wir tun, was wir gegen den Willen Gottes aus unserer eigenen Macht heraus tun, kann nur zertrennen und zerspalten. In unserem eigenen Besserwissen, Bessermachen und Verbessern, zertrennen wir uns nur immer weiter. Gottes Geschenk der Einheit kann nicht zerstört werden, aber wir können aus ihr herausfallen. Wir fallen in dem Maß heraus, in dem wir die Kirche zu unserem Selbstbesitz nach unserem Bild und Gleichnis machen, indem wir die Demut verlieren, uns von Gott leiten zu lassen; die Demut verlieren, nicht das Selbstgemachte umzulegen, sondern hineinzugehen in das Geheimnis des Wortes und der Liebe, das uns vorausgeht, das allein uns wandelt.

So führt diese eine Szene als Spiegelung des Geheimnisses von Jesu Schweigen in vielerlei Denken und vielerlei Beten, so Gott will, auch in vielerlei Handeln hinein.

Wir wollen den Herrn bitten, dass er uns schenkt, aus der Selbstherrlichkeit des Selbermachen-wollens herauszutreten, in das Geschenk seiner Einheit zu gelangen.

Wir wollen ihn bitten, dass wir die Demut des Gekreuzigten möglichst neu zu verstehen lernen. Wir wollen ihn bitten, dass er uns lehre, was es heißt, in ihr verwandelt zu werden, nicht uns selbst zu Gott zu machen, sondern auf seinem Weg mit uns die wahre Würde zu erlangen.

Wir wollen ihn bitten, dass er uns schenke, das Geheimnis der Taufe zu verstehen, immer mehr zu leben, dass unser Leben ein Christus-Anziehen werde, dass sein Bild uns Gestalt und Lebensmut bedeute.

Dies alles ist zusammengefasst in der Bitte, mit der wir heute die Liturgie begonnen haben: „Dem Gesetz der Natur nach tragen wir das Bild des Irdischen, des aus Erde gemachten Menschen an uns. Schenke du uns, dass wir durch das Geheimnis der Gnade geheiligt, das neue Bild, das Bild deines Sohnes in uns tragen, und so wahre Menschen werden.“

 


[1] [Vgl. IgnEph 15 (ed. Fischer, 155).]

[2] [Vgl. Philo von Alexandrien, Fug, 109].