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Presseschau - Detail

Die Kirche geht der Schrift voraus

DT vom 24.09.2013, Nr. 115, S. 6. von Michael Karger

Hilfe zur Bibellektüre: Bischof Rudolf Voderholzer über Schrift und Tradition als göttliche Selbstoffenbarung. 

 

Verstehst du auch, was Du liest?“, fragt der Apostel Philippus den in die Gottesknechtslieder bei Jesaja vertieften Äthiopier, mit dem er unterwegs ist. Philippus erschließt sodann dem Leser Christus als den Offenbarer des Vaters, auf den hin das Alte Testament geschrieben worden ist und von dem her es auch nur verstanden werden kann. Zwei Dinge lehrt diese Episode aus der Apostelgeschichte: Dass ohne die Auslegung der Kirche das Alte Testament in sich betrachtet unverständlich bliebe und dass es unverzichtbar zum apostolischen Dienst gehört, die Offenbarung Gottes mit ihrem Höhepunkt in Jesus Christus verstehbar zu machen. Diese Auslegung steht in dem Band „Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung“ von Rudolf Voderholzer. Mit diesem Werk über die christliche Bibelhermeneutik beendet der Dogmatikprofessor seine Lehrtätigkeit und zeigt als neuer Bischofs von Regensburg sein theologisches Profil. Es handelt sich um eine Sammlung von zwölf Einzelbeiträgen aus dem Zeitraum 1999–2012, sie gliedert sich in die Kapitel „Offenbarung und Offenbarungszeugnis“, „Schriftauslegung“ und drittens „Konkretionen“.

 

Mitte des Ganzen ist die Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanums. Am Anfang steht der große französische Theologe Henri de Lubac. Aus den Kirchenvätern und der Theologie des Mittelalters konnte er in der Modernismuskrise den Lösungsweg zeigen: Im Mittelpunkt der Offenbarung steht nicht eine Lehre Jesu, sondern die Person Jesu Christi selbst. Darum ist die Schrift nicht die Offenbarung selbst, sondern die geschichtliche Bezeugungsform der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Durch den Höhepunkt der Offenbarung in Christus werden die zusammenhanglosen Einzelschriften des Alten Testamentes geeint und erschließen ihren Sinn. Diese Einsichten wurden in das Vorwort und das erste Kapitel von „Dei Verbum“ aufgenommen: Christus ist die eine Quelle der Offenbarung, die von Schrift und Tradition bezeugt wird. Darum weist Voderholzer die oftmals von christlicher Seite gedankenlos übernommene Bezeichnung des Christentums als Buchreligion zurück. Ursprünglich sei diese Bezeichnung im 19. Jahrhundert in der Religionswissenschaft aufgekommen. Zugleich werde dabei die Redeweise des Koran von Juden und Christen als den „Leuten der Schrift“ übernommen. „Insofern sich der Koran als die Erfüllung des Neuen Testamentes versteht (analog der Erfüllung des Alten Testaments im Neuen) stellt sich Mohammed ausdrücklich in die Tradition der Schriftbesitzer“, schreibt Voderholzer, und man könnte nur noch hinzufügen, dass Mohammed sich damit zugleich auch über die anderen „Schriftbesitzer“ stellt. Wenn es sich nach islamischem Selbstverständnis beim Koran allerdings unmittelbar um das eingegebene Wort Gottes handelt, wie lassen sich dann offensichtlich irrige Aussagen wie die, dass nach christlicher Lehre zur Dreifaltigkeit Vater, Sohn und die Gottesmutter Maria gehören, begründen, fragt Voderholzer und macht damit auf das Problem der Vereinbarkeit von Koranauslegung und historisch-kritischer Exegese aufmerksam.

 

Voderholzer hat im Rahmen der von ihm wissenschaftlich betreuten ersten Gesamtausgabe der Schriften von Joseph Ratzinger erstmals die vollständige Habilitationsschrift von Papst Benedikt XVI. herausgegeben. Auf dieses kommt er auch in diesem Buch zu sprechen. Ratzingers damalige Forschungsergebnisse über den Offenbarungsbegriff bei Bonaventura waren für den Zweitkorrektor Michael Schmaus – Gutachter für das Heilige Offizium – modernismusverdächtig. Mit allen Mitteln suchte er die wissenschaftliche Laufbahn des jungen Theologen zu verhindern. Was Schmaus noch unterdrücken wollte, konnte Ratzinger dann als Konzilstheologe in die Beratungen der Offenbarungskonstitution einbringen: Zur Offenbarung gehört konstitutiv auch ihre gläubige Annahme. Das lebendige Subjekt der Offenbarungsannahme ist die Kirche, sie geht der Schrift voraus. Schrift und Tradition sind verschiedene Aspekte der göttlichen Selbstmitteilung. Tradition ist keine eigenständige Offenbarungsquelle, sondern „die in die Zeit erstreckte Kirche als Subjekt des Offenbarungsempfangs“. Ratzinger betont auch die Einheit der Schrift in Christus, wenn er sagt, „das ganze Alte Testament muss gleichsam durch die christologische Verwandlung hindurch, gilt nicht aus sich heraus, sondern von Christus her auf Christus hin“. Für Ratzinger heißt, die Schrift als Einheit lesen, aber auch, „sie von der Kirche als ihrem Existenzort her lesen und den Glauben der Kirche als den eigentlichen hermeneutischen Schlüssel ansehen“. Wenn demnach Tradition und Dogma der Kirche den Zugang zur Schrift „nicht verbaut, sondern öffnet“, dann bedeutete das für Ratzinger auch, „dass der Kirche in ihren amtlichen Organen das entscheidende Wort der Schriftauslegung zukommt“. Im Rückblick auf das Konzil nannte Ratzinger das mit „Dei Verbum“ Erreichte noch keine wirkliche Lösung, sondern ein „notwendiges Durchgangstadium“.

 

Im zweiten Teil seines Buches erschließt Voderholzer die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, was man unter Typologie versteht und dass es sich bei der christlichen Allegorese um die von Paulus begründete Auslegung des Alten Testamentes im Heiligen Geist auf Christus und die Kirche hin handelt. Den Vorwurf der Geschichtsfeindlichkeit der Allegorie weist Voderholzer zurück: Sie bedeutet nicht die Leugnung der Geschichte, sondern „ihre Durchleuchtung auf ihren tieferen Sinn hin“. Für Voderholzer ist in den vier Dimensionen der Heiligen Schrift, dem buchstäblichen Sinn, dem allegorischen Sinn, dem moralischen Sinn und dem anagogischen Sinn (die Hoffnung stärkend) eine Struktur erkennbar: „Die Schrift bezeugt ein Geschehen, ist also kein Mythos. Dieses Zeugnis (des Buchstabens) will im Leser und Hörer den Glauben wecken, der nun in der Liebe wirksam wird und in der Hoffnung auf die ewige Gemeinschaft mit Gott seinen letzten Ziel- und Orientierungspunkt hat.“ Von besonderer Bedeutung ist die Antwort des Verfassers auf die Frage, ob eine geistige Auslegung auch des Neuen Testamentes möglich sei. Da das Christusereignis die Erfüllung des Alten Testamentes ist, „darf man das Neue Testament nicht seinerseits wieder allegorisch auslegen“. Davon auszunehmen sind die Wunder und Heilszeichen Jesu, die über sich selbst auf seine Heilswirksamkeit in seiner Kirche vorausweisen. Auch seien die Gleichnisse stets auf das Ganze des Glaubens hin auszulegen. Im dritten Teil sind kleine hermeneutische Meisterstücke des Verfassers versammelt: Darunter ist die Deutung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter als Zusammenfassung des gesamten Heilswirkens Jesu Christi. Den oft falsch verstandenen Wappenspruch von Kardinal Faulhaber „Vox temporis vox Dei“ („Die Stimme der Zeit ist die Stimme Gottes“) gemäß der freieren Übersetzung Faulhabers („Was Bedürfnis der Zeit ist, ist ein Anruf Gottes“) stellt Voderholzer richtig: Aufgabe des Bischofs ist es, „sich von den Herausforderungen des Tages die Themen geben zu lassen und die Gegenwart im Licht des Evangeliums zu deuten“.

 

In der Erklärung eines Kapitells aus dem 12. Jahrhundert mit der Darstellung der mystischen Mühle in der Kirche Saint Marie-Madelaine in Vezelay wird das zentrale Thema des Bandes noch einmal anschaulich gemacht: „Das Korn des Alten Bundes wird durch das Christusereignis gemahlen und verwandelt in das Mehl des Neuen.“

 

In der Analyse des Films „The Passion of the Christ“ von Mel Gibson wird die Glaubenshaltung Marias als Schlüssel zum Verständnis herausgearbeitet, was der Regisseur in seinem „Drehbuch“ aus dem „Bitteren Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ von Anna Katharina Emmerick übernommen hat. Nachweise der Erstveröffentlichungen und ein Personen- und Bibelstellenregister beschließen den Band. Dieses gut lesbare kleine Lehrbuch der Bibelhermeneutik ist ganz aus dem authentischen Geist des Konzils geschrieben und leistet einen wichtigen Beitrag zur Rezeption der Lehre der Kirchenversammlung für die Gegenwart.

 

Rudolf Voderholzer: Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik. Verlag Pustet, Regensburg 2013, 208 Seiten, geb., EUR 24,95