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In die Liebe Gottes hineingehen


Die folgende Predigt hat der Erzbischof von München und Freising, Joseph Kardinal Ratzinger, am 12. April 1979 in der Liturgie des Gründonnerstags im Münchener Dom gehalten. 

 

Die Grundlage für die Betrachtung ist das Johannesevangelium 13, 1–15.

(Quelle: JRGS 14, 386–390)

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

 

Ein mir befreundeter österreichischer Priester hat vor kurzem Erinnerungen an seine Mutter veröffentlicht, die in schwerer Zeit, und in einer für uns kaum noch vorstellbaren Not, elf Kindern den Weg ins Leben hinein geöffnet hat, von denen acht aus freien Stücken den Weg zum Priester- und Ordensstand aufnahmen. Das Erschütterndste an diesem Buch ist die Erzählung von dem Testament der Mutter. Sie hatte an ihrem letzten Tag morgens wie immer die Eucharistie mitgefeiert und den Leib des Herrn empfangen. Sie hatte ihr Tagewerk getan wie immer, hatte am Abend wie immer mit dem Vater die Bilder der Kinder gesegnet, und war auch wie immer in die Küche gegangen, um sich noch etwas Kaffee zu machen. Dort fand man sie wenig später ohnmächtig zusammengebrochen und drei Stunden später war sie tot. Das Erschütternde aber war, dass man auf dem Tisch eine Postkarte vorfand, die einer ihrer Söhne ihr wenig zuvor geschrieben hatte. In eine freibleibende Ecke hatte sie mit schwacher, aber noch gut lesbarer Schrift den Satz geschrieben: „Mache mit mir, was du willst, nur gib: dass ich dich vollkommen liebe.“

Sie hatte offenbar die Macht der Zerstörung des Todes, das Unabsehbare des physischen Zusammenbruchs auf sich hereindringen gespürt und in dem letzten Augenblick, der ihr verfügbar war, noch ein letztes Wort zu den Ihrigen sagen, sich selbst noch einmal aussagen wollen. Und sie hatte diesen Augenblick an der Grenze des Todes, diesen Augenblick der äußersten Angst, der Übermächtigung durch das Undurchschaubare, verwandelt in eine völlige Freiheit. „Mache mit mir, was du willst, nur gib, dass ich dich vollkommen liebe.“ Auch wenn man sonst nichts wüsste von dem Weg dieser Frau, so könnte man daraus erkennen, welchen Weg sie gegangen sein muss, um am Schluss in aller Einfachheit, die ihr eignete, eine solche Größe, eine solche Reife und Freiheit zu finden. Und es braucht auch keiner Kommentare, um zu wissen, dass von einem solchen Leben so etwas wie eine Radioaktivität des Guten ausgehen musste, die noch eine ganze Generation trägt und bewegt und sie gleichfalls radioaktiv des Guten macht. Und weiter: auch wenn man es nicht wüsste, könnte man erahnen, müsste man vermuten, dass ihr solche Freiheit zugewachsen ist aus dem Hineinschauen und Hineinleben in die Gestalt Jesu Christi. In der Tat war dies ihr Weg gewesen. Sie hatte mit der Liturgie gelebt und von ihr her Christus gesucht. Und weil solche Freiheit von Christus kam, deswegen weist sie auch wieder auf ihn hinüber und hilft uns, ihn besser zu sehen, ihn mehr zu verstehen.

Mir scheint, dass man von diesem Satz und dem Vorgang, den er in sich trägt, her besser als von vielen gelehrten Kommentaren aus, verstehen kann, was die Botschaft des heutigen Evangeliums sagt – die Botschaft von den letzten irdischen Lebensstunden Jesu Christi: „Da er die Seinen liebte, liebte er sie bis ans Ende.“ Und wir können von da aus besser das Geheimnis des Ölbergs verstehen, in dem die ganze Angst der einsam dem Nichts ausgesetzten Kreatur umgewandelt wird in Freiheit. In die Freiheit der größeren Liebe: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deinige“ (Lk 22, 42). Und weil diese seine Liebe nicht nur ein Nachlieben mit ihm, sondern die schöpferische Liebe des Sohnes war, deswegen geht von ihr eine Radioaktivität des Guten aus, die bis zum Weltende hindurchreicht, die unzerstörbar ist, die die schmale, aber verlässliche Insel der Erlösung bildet, von der das Licht kommt, das uns leben hilft. 

„Mache mit mir, was du willst, nur gib, dass ich dich vollkommen liebe.“ Von daher wird uns der Herr verständlich. Die Urgebärde jener Liebe, mit der er sich zum Sklaven macht, der den Sklavendienst tut an der Tür, die Gäste zu erwarten, und ihnen – wie es Staub und Schweiß des Orients verlangen – die Füße wäscht, damit sie tischfähig werden. Er wartet auf uns, um uns von Staub und Schweiß unseres Lebens zu reinigen, damit wir fähig werden, miteinander zu sein, damit wir fähig werden, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Es ist etwas Merkwürdiges um diese Geschichte von der Fußwaschung. Immer wieder ist gesagt worden, dass sie eigentlich alle Züge der Einsetzung eines Sakramentes in sich trage. Da ist äußeres Zeichen, da ist Gnade, da ist das Wort: „Tut dies, wie ich es getan habe“. Und so ist wohl manchmal auch erwogen worden, es als ein Sakrament zu verstehen. Aber in Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht um ein vergessenes, ausgelassenes achtes Sakrament, sondern es stellt sich darin dar das Sakrament, das er selber ist. Das Sakrament seiner im Leiden und Sterben bewährten Liebe, das uns vor allen Dingen in der Eucharistie geschenkt wird, in der er ja sich selbst als Liebe gibt. Das Sakrament der Eucharistie, das freilich eng verbunden ist mit den Sakramenten der Bekehrung – mit Taufe und mit Buße. Und so können wir, wenn wir auf diese Geschichte hinschauen, in der zutiefst das Geheimnis der Eucharistie ausgelegt ist, auch wieder neu begreifen, was es heißt: Eucharistie zu empfangen. Auch die Gründonnerstagsszene, die Fußwaschung jedes Jahr in der Liturgie dieses Tages, hat letztlich den Sinn, uns die Augen wieder aufzumachen, uns besser verstehen zu lehren, was Eucharistie feiern heißt. Eucharistiefeiern heißt: in die Liebe hineingehen. Und in die Liebe kann man nicht hineingehen ohne dass man sich selbst, den Egoismus, zurücklässt. In die Liebe hineingehen, das heißt: immer auch sagen lernen: mache mit mir, was du willst. Und so wird man, ob wir recht Eucharistie feiern, vor allen Dingen immer wieder daran messen müssen, wie weit wir selbst in die Radioaktivität der Liebe hineingezogen werden.

Der Heilige Vater hat in seiner Enzyklika Redemptor hominis darauf aufmerksam gemacht, dass Jesus seine ganze Botschaft in zwei Sätze zusammengefasst hat: „Glaubt an das Evangelium“ und „Bekehrt euch“. Das ist Einladung in die Freude seiner Liebe, Einladung in die Eucharistie hinein. Aber derselbe Jesus, der sagt: „Kommt!“ und der sich uns anbietet, sagt auch: „Bekehrt euch!“. Werdet frei von euch selbst, damit die Radioaktivität der Liebe in euch Kraft und Raum finden könne. Der Glaube der Kirche hat für diese neue Radioaktivität einen Namen: sie heißt Heiliger Geist. Er ist die von ihm ausströmende Liebe, die Liebe in Person. Und der Papst fordert uns in der Enzyklika auf, in ihn als den Raum der Erlösung hineinzugehen: von ihm her, nach ihm rufend, mit ihm lebend, die Welt umzugestalten. Der Verseuchung der Welt diese neue, verwandelnde Radioaktivität gegenüberzustellen, die allein ihre Rettung sein kann. Denn die Welt wird nicht erlöst durch das Anspruchsdenken und seine Revolutionen, sondern sie wird allein erlöst durch die Gewalttäter Gottes, die Gewalttäter des Glaubens und der Liebe, wie der Papst im Anschluss an ein Wort Jesu sagt. Er hat in dieser Enzyklika auch eine Diagnose unserer Zeit gegeben, die mit dem Besonderen dieses Abends ineinander klingt. Er sagt, unsere Zeit sei ein neuer Advent. Bei dem Wort Advent denken wir zunächst an das Trostvolle und Frohe der Erwartung auf die Nähe des Herrn hin. Wir denken an die Erwartung Marias und das stille gute Licht, das davon ausgeht. Aber Advent hat auch eine andere Seite. Er heißt auch, Nacht des Ölbergs. Er heißt auch, einsames Ausgesetztsein an die Grenze des Nichts und des Todes. Er heißt, einsames Ringen mit den Mächten des Chaos in der Stunde, in der die Bösen geschäftig sind; die Jünger aber schlafen. Blaise Pascal, der selbst viele Jahre von Krankheit gezeichnet war, und immer wieder die Ausgesetztheit in die Nacht der Einsamkeiten, in die Nacht des Ölbergs erfuhr, hat einmal den Satz niedergeschrieben: „Jesus ist in Agonie bis ans Ende der Zeiten.“[1] Er ist auch heute auf dem Ölberg. Und wir brauchen nur ein wenig unsere Augen aufzumachen, um es zu erkennen. Wie viele Menschen sind um ihres Glaubens, um ihres Gewissens willen, heute in die Einsamkeit hineingestoßen. Wie viele hineingestoßen in die Angst des Nichts und der Vernichtung, die sie bedroht. Und wie weithin müssen wir sagen, dass seine Jünger schlafen, weil sie die Einsamkeit des Herrn, die Ausgesetztheit und Bedrohung der Seinigen, nicht erkennen wollen oder können. In ihnen allen ist Advent, der ruft nach der Verwandlung, der ruft nach der Erlösung durch die erbarmende Liebe Jesu Christi.

So wollen wir in dieser Stunde auf den Herrn hinschauen, der für uns einsam war. Wir wollen auf die hinschauen, die für ihn und mit ihm einsam sind.

Wir wollen ihn bitten, dass er sie seine stärkende Nähe erkennen lässt. Wir wollen ihn bitten, dass er uns aufweckt aus dem Schlaf unserer Gleichgültigkeit heraus.

Wir wollen ihn bitten, dass er die Angst, die auch in unseren Seelen ist, die wir oft mit großen Worten übertönen, und die uns dazu drängt von ihm wegzugehen, zu flüchten, weil wir uns fürchten mit ihm, dass er die Angst von uns wegwischen möge.

Und dass er uns die wahre Freiheit, die erlösende, schenke, die da mit ihm sagen kann: „Mache mit mir, was du willst. Nur gib, dass ich dich vollkommen liebe.“

 


[1] [Pascal, Pensées (1954), Fragment 736, 1313].